Wie das Gesundheitssystem widerstandsfähiger und gleichzeitig leistungsfähiger werden kann, zeigt ein Team um Thomas Lenarz (Medizinische Hochschule Hannover) und acatech Präsident Karl-Heinz Streibich in einem heute erschienenen Impulspapier von acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften. Die Expertinnen und Experten empfehlen ein europaweites, digitales Meldesystem für Gesundheitsdaten. Echtzeit-Daten der Infektionslage seien der Schlüssel für die richtige Wahl der Schutzmaßnahmen.
Eines wurde in der Corona-Krise schnell deutlich: Es ist eine weltweite Pandemie, für die Politik, Wissenschaft und Wirtschaft auch europäische und globale Antworten finden müssen. Das gilt nicht nur für die akute Krisenbewältigung der Corona-Pandemie, die aktuell an erster Stelle steht, sondern auch, wenn es anschließend heißt, aus der Krise zu lernen und sich für die Zukunft zu wappnen. Ziel aller nationalen Anstrengungen innerhalb Europas muss es laut acatech Expertinnen und Experten entsprechend sein, die gesamteuropäische Resilienz mit Blick auch auf globale Zusammenhänge zu stärken.
Die Belastungsgrenzen und strukturellen Ausrichtungen der Gesundheitssysteme sind innerhalb der EU aber auch innerhalb Deutschlands divers. Deutlich wurden diese starken Unterschiede unter anderem anhand der regional verfügbaren Intensivbetten. Entsprechend wichtig ist die Koordination und Kooperation aller beteiligten Behörden, Institutionen und weiterer Akteure auf lokaler, Landes- Bundes- und EU-Ebene.
Reserven aufstocken
Thomas Lenarz, Medizinische Hochschule Hannover und acatech Mitglied, sagt: „Die Versorgungsstrukturen bestimmen über die Belastungsgrenzen in einer Krisensituation. Sie sollten modernisiert und ausgebaut werden. Zum Beispiel brauchen wir mehr medizinische Versorgungszentren und ambulante OP-Zentren. Sie ermöglichen in und nach Gesundheitskrisen Erkrankte oder Patientinnen und Patienten mit schweren chronischen Erkrankungen bestmöglich und schnellstmöglich zu behandeln.“ Notwendig sind laut Thomas Lenarz auch bessere Reserven von Medizintechnik für Diagnose und Therapie, von Labor- und Testkapazitäten und von Arzneimitteln und Impfstoffen. „Wir empfehlen ein europaweites, einheitliches und verpflichtendes elektronischen Meldesystem für Arzneimittel und Medizinprodukte.“
Darüber hinaus sind ausreichend medizinisches Personal sowie Personal, auf das in Krisenzeiten zusätzlich zurückgegriffen werden kann, besonders wichtig, so die Expertengruppe. Eine zentrale Datenbank, die auch ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Gesundheitssektor umfasst, kann eine zielgerichtete Steuerung des Personals im Krisenfall ermöglichen. Kontinuierliche Schulungen und bereichsübergreifende Weiterbildungen können gewährleisten, dass sie flexibel in unterschiedlichen Bereichen mitarbeiten könnten. Das Ansteckungsrisiko für das Personal kann durch den verstärkten Einsatz von Telemedizin und Robotern minimiert werden. Die Expertengruppe empfiehlt zudem, den öffentlichen Gesundheitsdienst durch eine langfristige Aufstockung des Fachpersonals zu stärken.
Dateninfrastrukturen aufbauen
Karl-Heinz Streibich fordert einen ersten Datenraum im Gesundheitsbereich zu initiieren: „Wir sollten auch im Gesundheitsbereich die Möglichkeiten der Digitalisierung konsequent nutzen. Wir brauchen einen Datenraum, der den Austausch von Informationen in Echtzeit erlaubt und die vertrauensvolle Verarbeitung ermöglicht.“ Die acatech Expertengruppe empfiehlt dafür eine europäische Datenraum-Architektur mit einheitlichen Standards. Diese bildet die Basis für die digitale Vernetzung der nationalen Gesundheitssysteme, im Krisenfall können Informationen europaweit konsolidiert und genutzt werden – denn eine Pandemie kennt keine Ländergrenzen.
Darüber hinaus sollte nach Ansicht der Expertinnen und Experten die elektronische Patientenakte auf europäischer Ebene weiterentwickelt werden. Neben Arztpraxen und Laboren sollten sich auch Krankenhäuser und Apotheken verpflichtend beteiligen. Global vernetzte Frühwarnsysteme könnten darüber hinaus helfen, Pandemie-Risiken schneller zu erkennen.
Europa muss zudem stärker in der Entwicklung neuer Technologien für den Gesundheitsbereich werden. Dazu braucht es ein gemeinsames medizinisches Innovations-Ökosystem. Dieses wird nicht nur die Impfstoffentwicklung beschleunigen, sondern auch die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens insgesamt verbessern.
Schutzmaßnahmen müssen verhältnismäßig und transparent sein
Die Erkenntnisse über die Gesundheitskrise ändern sich dynamisch und mit ihnen die nötigen Schutzmaßnahmen. Grundrechtseinschränkungen zum Wohle der Gesundheit müssen stets genau abgewogen und auf ihre Verhältnismäßigkeit überprüft werden. Der Staat darf Freiheitsrechte nur dann beschneiden, wenn andernfalls das Gesundheitssystem an seine Kapazitätsgrenzen stößt. Der politische Entscheidungsprozess muss vollständig transparent kommuniziert werden, damit die Bürgerinnen und Bürger die Maßnahmen akzeptieren und mittragen. Kommunikations-, Kognitions- und Verhaltenswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sollten Kommunikationsmittel entwickeln, die hinsichtlich Verständlichkeit und Zielgruppeneignung dem State of the Art der Kommunikationsforschung entsprechen.
Über das Projekt „Lehren der Corona-Pandemie“
Das acatech Projekt „Resilienz und Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens in Krisenzeiten“ startete im Juli 2020. Ein zentrales Anliegen der Expertengruppe um acatech Präsident Karl-Heinz Streibich ist es, Lehren aus der Corona-Pandemie zu ziehen und Empfehlungen für ein widerstandsfähigeres Gesundheitssystem zu geben. Gefördert wird das Projekt vom Bundesministerium für Gesundheit.
Die Presseinformation sowie Expertenstatements finden Sie unter: www.acatech.de/resilienz-gesundheitswesen